Kulturmanager, Literat & Satiriker


Meine Erinnerungen an Mariss Jansons

10. Dezember 2019

Am 29. Oktober besuchte ich mit meiner Frau das Konzert des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in der Elbphilharmonie unter Chefdirigent Mariss Jansons und erlebte nach der Pause eine aufrüttelnde Widergabe der Zehnten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, mit der sich der Komponist im Jahre 1953, nach dem Tode Josef Stalins, aus den Jahren des Schweigen zurück meldete.

Irritiert und nachdenklich hatte ich auf meinen Freund Mariss Jansons geblickt, als dieser schleppenden Schrittes die wenigen Meter zum Dirigenten-Podium überwand, denn am Beginn des Konzertes stand das A-Dur Klavierkonzert, KV 488, von Mozart, gespielt von Rudolf Buchbinder. Und dann, nach der Pause, die Zehnte von Dmitri Schostakowitsch, die Jewgeni Mrawinski mit den Leningrader Philharmonikern am 17. Dezember 1953 uraufgeführt hatte, dessen Assistent Arvid Jansons, der Vater Mariss Jansons war, den seine Mutter, die jüdische Mezzosopranistin Iraida Jansone, in einem Versteck am 14. Januar 1943 zur Welt brachte, nachdem ihr Vater und Bruder im Rigaer Ghetto von der SS Adolf Hitlers, der in München seine Karriere als einer der größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte begann, ermordet wurden.

Ich lernte Mariss Jansons im Jahre 1992 kennen, auf Anregung Anne Sophie Mutters, denn ich hatte als Leiter der Hauptabteilung Klangkörper des Mitteldeutschen Rundfunks, wie als Gründer und Leiter des Festivals MDR-Musiksommer, einen Kompositionsauftrag an Krzysztof Penderecki vergeben, der ein Violinkonzert für das Eröffnungskonzert des MDR-Musiksommers 1995 komponieren sollte und Anne Sophie Mutter hatte sich Mariss Jansons als Dirigent der Uraufführung gewünscht.

Mariss Jansons und ich trafen uns in dem Berliner Hotel, in welchem Herbert von Karajan immer wohnte, wenn er die Philharmoniker dirigierte, zu dessen ständigen Gastdirigenten Mariss Jansons gehörte, und ich konnte den berühmten Dirigenten für das Eröffnungskonzert des MDR-Musikfestivals 1995 gewinnen, und als ich einen Nachfolger für Daniel Nazareth suchte, dachte ich zuerst an Mariss Jansons, und wir trafen uns nicht in Berlin, sondern in Wien, er dirigierte die Wiener Philharmoniker, und alle meine Überredungskünste brachten mich nicht weiter, der bereits seit 1979 Chefdirigent der Oslo Philharmoniker war, die er zu einem Klangkörper der Spitzenklasse geformt, er ging stattdessen nach Pittsburg, während ich der Öffentlichkeit nicht Mariss Jansons als Chefdirigenten des MDR präsentieren konnte, sondern stattdessen die MDR-Hauptdirigenten Manfred Honeck, Fabio Luisi und Marcello Viotti, drei Hochkaräter statt eines einzigen, und als Mariss Jansons im Jahre 2004 das Pittsburg Symphony Orchestra verließ, wurde Manfred Honeck sein Nachfolger, wie Mariss Jansons Nachfolger Lorin Maazels war.

Seit Eröffnung der Elbphilharmonie im Jahre 2017 war Mariss Jansons auf Einladung des Generalintendanten, Christoph Lieben-Seutter, immer wieder Gast im Großen Saal der Elbphilharmonie mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, wie mit den Wiener Philharmonikern, deren Neujahrskonzerte 2006, 2012 und 2016 er dirigierte, und nach dem Konzert am 29. Oktober ging ich mit meiner Frau in seine Garderobe, und wir bedankten uns für das großartige Konzerte. Wir tauschten nur wenige Worte, denn Mariss saß vollkommen erschöpft auf seinem Stuhl und außer uns und seiner Frau Ilona, sie ist Ärztin, waren noch Christoph Lieben-Seutter, der Generalintendant der Elbphilharmonie, Peter Ruzicka, der Dirigent, Komponist und Intendant der Salzburger Osterfestspiele, und Achim Dobschall, der Manager des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters (ich war von 1988 bis 1991 einer seiner Vorgänger) anwesend, und wir schauten uns an und Achim Dobschall sagte – wie lange werden wir ihn noch haben und dürfen solche Konzerte erleben?

Es sollte das letzte Konzert sein, das wir mit ihm in der Elbphilharmonie erleben durften, denn die Konzert-Tournee, die in Wien mit zwei Konzerten begann, und über Paris bis New York führte, war die letzte seines ruhmreichen und erfolgreichen Lebens.

Mariss Jansons hatte sich, seit er in München arbeitete, für den Bau eines Konzertsaales für sein Orchester eingesetzt, der in dem Neuen Quartier am Ostbahnhof entsteht, und ich habe in meinem vierten Candide Voltaire-Roman, dessen erstes Kapitel mit dem Konzert der Wiener Philharmoniker im Jahre 2012, geleitet von Mariss Jansons, beginnt, ihm ein literarisches Denkmal gesetzt, es war das Konzert, dass von dem damaligen Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern, Horst Seehofer, besucht wurde, der Mariss Jansons seinen Konzertsaal versprach, ein Versprechen, welches jetzt nach vielen Jahren des Stillstandes, realisiert wird, und man kann nur hoffen, dass der große Saal des neuen Musikzentrums, in welchem das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks Hausrecht genießt, nach dem Mann benannt wird, der, beginnend mit dem Jahre 2003 für diesen Saal kämpfte – Mariss Jansons, dem fünften Chefdirigenten in der Geschichte des Orchesters, nach Eugen Jochum, der das Orchester gründete und Rafael Kubelik, Colin Davis und Lorin Maazel. Das Leben und die Ära Mariss Jansons endete am 1.Dezember 2019 in Sankt Peterburg, 34 Tage nach meiner letzten Begegnung mit ihm im Dirigentenzimmer der Elbphilharmonie, er war einer der ganzen Großen im Reich der Musik.



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