Kulturmanager, Literat & Satiriker


10. Oktober 2024

Erinnerungen an Udo Reiter

Udo Reiter lernte ich im Jahre 1981 im Herkules-Saal der Münchner Residenz kennen, dem ehemaligen Thronsaal der Könige von Bayern anlässlich eines Konzertes des Bayerischen Symphonieorchesters unter Rafael Kubelik, denn ich ging als Intendant und Verwaltungsdirektor der Münchner Philharmoniker mit schöner Regelmäßigkeit seit 1981 in die Konzerte der Konkurrenz, und traf dort regelmäßig auf Dr. Udo Reiter, der im Rollstuhl sitzend meine Aufmerksamkeit erregte, und wir sprachen miteinander, auch interessierte ihn, wie ich mit Sergiu Celibidache zusammenarbeiten könnte, der 1979 Chefdirigent wurde, und die Münchner Philharmoniker zu einem Orchester von Weltruf machte, doch dafür bekannt war, dass er nicht nur schwierig, sondern mehr als nur schwierig war – eine Mimose, der alle seine Kollegen als Dilettanten bezeichnete, auch Herbert von Karajan, außer Wilhelm Furtwängler, doch den schätze er auch nur als Beethoven-Interpret.

Udo Reiter, geboren am 28. März 1944 in Lindau, der Inselstadt im Bodensee, wollte Pilot der Lufthansa werden, doch ein Autounfall auf eisglatter Straße am 5. Dezember 1966 veränderte sein Leben und seine Lebenspläne, denn als er aus der Narkose erwachte, mussten ihm die Ärzte mitteilen, dass er nie mehr aufrecht stehen noch gehen könne., dass er für die weiteren Jahre seines Lebens an den Rollstuhl gefesselt wäre. Doch Udo Reiter, der vom fünften Brustwirbel abwärts Gelähmte gab nicht auf, und studierte Germanistik, Geschichte und politische Wissenschaft, und promovierte über den expressionistischen Lyriker Jakob van Hoddis, geboren am 16.Mai in Berlin, der 1942, so die Vermutungen, im Vernichtungslager Sobibor von den damaligen Herren über weite Teile Europas, den Vollstreckern des absoluten Führerwillens, sein Leben beenden musste, und das Gedicht Weltende hinterließ, welches Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki in den Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke aufnahm.

Udo Reiter wurde freier Mitarbeiter des Bayerischen Rundfunks, wurde Leiter des Familienfunks, 1972 erhielt er den Kurt-Magnus-Preis der ARD für seine Dokumentationssendungen, wurde 1983 Chefredakteur, 1984 stellvertretender Hörfunk und 1986 Hörfunkdirektor. Und ich ging nach Hamburg und wurde Manager des NDR-Sinfonieorchesters, Chefdirigent war Günter Wand, der in seinen späten Jahren noch eine Weltkarriere gemacht hatte – vor allem als Bruckner-Interpret, doch nach dem apodiktischen Urteil Sergiu Celibidaches, so wenig von Musik verstand, wie Herbert von Karajan, Karl Böhm, Carlos Kleiber und alle anderen die es wagten Werke von Anton Bruckner zu dirigieren, auch Wilhelm Furtwängler konnte für Sergiu Celibidache nicht die Werke Anton Bruckners deuten, denn auch dieses Zitat hinterließ Sergiu Celibidache, der die große Anne Sophie Mutter als geigendes Huhn zu titulieren beliebte: Es gibt sogenannte Bruckner-Dirigenten, die noch nie eine Bruckner-Symphonie gespielt haben. Diese Kameltreiber haben von Bruckner absolut nichts verstanden. Ich frage mich manchmal, ob Bruckner je aufgeführt wurde. Ein Dirigent war für Celibidache, ein Diktator, der sich glücklicherweise mit auf die Musik beschränkte, und auf niemanden war das Urteil so zutreffend, wie auf ihn.

Im Jahre 1991 las ich in Italien, auch in Rom, Mailand, Florenz, Neapel und Rimini konnte man die Süddeutsche Zeitung kaufen, während einer Tournee des NDR-Sinfonieorchesters, dass zum Gründungsintendanten des MDR Udo Reiter gewählt worden wäre, und als ich wieder mein Büro in Hamburg betrat, hörte ich aus dem Munde meiner Sekretärin, dass eine Frau Sommerey, die Hörfunkdirektorin des MDR angerufen habe, und gleich wieder anrufen werde.

Und Frau Sommerey rief tatsächlich wenige Minuten später an, und fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, Leiter der Hauptabteilung Klangkörper des MDR zu werden, bestehend aus zwei Sinfonieorchestern, das zweite nannte sich Philharmonie, mit jeweils 115 Mitgliedern, dem weltberühmten Leipziger Rundfunkchor, dem Rundfunkblasorchester, der Big-Band, und einem Kinderchor. Ich konnte es mir vorstellen, flog am nächsten Tag nach Leipzig, akzeptierte das Honorar, wie den unbefristeten Vertrag in Verbindung mit meiner ARD-Rente, das Prozedere dauerte gefühlte zehn Minuten, dann gingen Frau Sommerey und ich zu Intendant Reiter, der sich über meine Zusage freute, wir unterzeichneten den Vertrag und tranken ein Erdinger Weißbier.

Ich gründete nicht nur den MDR-Musiksommer, zu Gast waren die Spitzenorchester der Welt, die Wiener Philharmoniker, das Orchester der Mailander Scala, das Concertgebouw-Orchestra Amsterdam ua.a, sondern auch die Dresdner Staatskapelle und das Gewandhausorchester Leipzig, gründete nicht nur Abo-Reihen in Städten des Sendegebietes in Dresden, Erfurt, Halle und Magdeburg, sondern auch in Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Frankfurt und München, doch nichts ist nach meinem altersbedingten Ausscheiden davon geblieben.

Und an einem Freitag im Jahre 1993 rief mich Udo Reiter an, und fragte, was machen wir am 16. Oktober. Und meine Gegenfrage lautete – welches Jahr meinen Sie? Und Reiter sagte, dieses Jahr. Wir haben eine Einladung in den Vatikan, ein Konzert zu Ehren seiner Heiligkeit Johannes Paul II. aus Anlass des 15-jährigen Jubiläums seiner Wahl zum Pontifex.

Ich flog nach Rom, mein Gesprächspartner war Monsignore Schwemmer, geboren am 11. September 1945 in Pressath in der Oberpfalz, und wir besprachen alles beim Lunch in einem Ristorante in der Nähe des Pantheons, und des Palazzo Madama, in welchem auch Senatoren, Minister und Medienmenschen jede Art von Intrigen sponnen, auch Silvio Berlusconi und Giulio Andreotti entdeckte ich unter den Gästen. Hans Schwemmer und ich wurden Freunde, was zur Folge hatte, dass der MDR mit seinem Chor und Sinfonieorchester auch anlässlich des 20. Jahrestages des Pontifikates Johannes Paul II., am 16. Oktober 1998 in der Audienzhalle vor 6000 geladenen Gästen auftraten, unter ihnen Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi und die italienische Regierung.

1997 wurde Hans Schwemmer zum Erzbischof und Nuntius des Papstes in Papua-Neuguinea und zum Titularerzbischof von Ravello ernannt, und Udo Reiter und ich flogen nach Neapel, und von da fuhren wir mit dem Leihwagen nach Ravello und alles war sehr lustig, wie in Filmen von Dario Fo und Vittorio de Sica, denn der Humor unseres priesterlichen Freundes war kaum zu toppen, doch auch Udo Reiter verfügte über einen grenzenlosen Humor, und beim Einführungsgottesdienstes unseres Freundes als Titularerzbischof von Ravello, im Dom zu Ravello, auf einem Felsplateau hoch über dem Meer, saßen Udo Reiter und ich unter den Fürsten der Chiesa, der Mafia und bildschönen Frauen aus Napoli, Sorrent und Amalfi, auch war jeder dritte Mann ein Bodygard mit der unvermeidlichen Sonnenbrille, die das Waffenhalfter nach innen trugen, und auch Joseph Aloisius Kardinal Ratzinger war gekommen, der Präfekt der Glaubenskongregation, den unser Freund nicht zu seinen Freunden zählte.

Udo Reiter war ein Glücksfall für den MDR, ein Mann, der keine Mauer um sich errichtete. Und die MDR- Papstkonzerte führten dazu, dass Udo Reiter, die Hörfunkdirektorin Karola Sommerey, und weitere, Freunde und Bekannte, unter ihnen Thomas Gottschalk und der Arzt Dr. Franz Böhmert, Präsident des SV Werder Bremen von 1970 bis 1999, und nicht zuletzt ich, Hubertus Franzen, im Vatikan die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Vatikanischen Museen gründeten, um die Restaurierung von Kunstwerken in den Vatikanischen Museen zu ermöglichen, angeregt durch den Direktor der Museen, Dr. Arnold Nesselrath, der auch für die Restaurierung der Sixtinischen Kapelle und die Stanzen Raffaels zuständig war.

Mit ihm auf dem Gerüst „Der Schule von Athen“ stehend, durfte ich Platon und Aristoteles mit der Hand berühren, und fragte ihn: Scusi tanto, aber sind Sie Rheinländer, ma tu sei Renano? Und er antwortete, dass er 1952 in Aachen geboren wurde. Und ich gestand, dass ich unweit von Aachen, in Stolberg das Licht der Welt, la luce del mondo, erblickt habe.

Und die Società degli Amici e Sostenitori dei Musei Vaticani veranstaltete Konzerte in der Capella Sistina, wie im Cortile des Palazzo Belvedere mit anschließenden Gala-Dinnern in den Sälen der Vatikanischen Museen, mit deren Erlösen wir die Restaurierung des Fresko il morte di Mose von Luca Signorelli in der Capella Sistina ermöglichten.

Ich sah Udo Reiter zum letzten Mal am 16. Mai 2013, denn ich las im Rahmen des Richard Wagner-Festivals der Stadt Leipzig in der Kuppelhalle der Commerzbank aus meinem Roman Warum Bayreuth, und Udo Reiter kam mit seiner Frau, Else Buschheuer, der Moderatorin und Autorin die Romane: Ruf mich, Massenberg, Venus, Der Koffer, und Zungenküsse mit Hyänen schrieb, wie auch die Non-Ficton-Romane: Verrückt bleiben! Mein Leitfaden für freie Radikale, und im Jahre 2019: Hier noch was zu retten? Über die Liebe, den Tod und das Helfen.

Udo Reiter starb am 10. Oktober 2014, es war das Jahr, in welchem Russlands Krieg gegen die Ukraine begann, das ukrainische Parlament nach den Euromaidan-Protesten den Präsidenten Viktor Janukowitsch absetze, und Wladimir Putin die Krim annektierte. Udo Reiter, der 46 Jahre im Rollstuhl saß, der mir nicht nur in einem Gespräch sagte, dass er nie zum Pflegefall werden wolle, setzte seinem erfolgreichen Leben selbst ein Ende – er erschoss sich.



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